Erinnerungen von Leo Seidl

1946 gründete der Bankangestellte Leo Seidl die Theatergruppe Friesenberg (TGF). Seine Begeisterung zum Volkstheater fand Seidl in Brasilien, wo sich der nach dem Ersten Weltkrieg übersielte deutsche Schauspieler Reichlinger eine neue Existenz aufbaute und den damals 16-jährigen Seidl in eine kaufmännische Lehre in seinem Eisenwaren- und Haushaltsgeschäft nahm. In diesem Bericht hier schildert Seidl seine Erinnerungen an die damalige Zeit.

Kaufmännische Lehre

Einem gütigen Geschick und einer sehr energischen, unternehmungslustigen Mutter, die schon in jungen Jahren Witfrau geworden war, verdanke ich es, dass ich gleich nach der Schulzeit den heimatlichen Boden mit dem tropischen Brasilien vertauschen durfte. Besagte energische Mutter steckte mich dort kurzerhand nach der Ankunft und ohne viel Federlesens in eine kaufmännische Lehre in einem Eisenwaren- und Haushaltgeschäft. Nun muss man wissen, dass der Süden Brasiliens hauptsächlich von ehemaligen Deutschen, Schweizern und deutschsprachigen Polen besiedelt ist, was wiederum mit sich brachte, dass zur damaligen Zeit auf der Strasse, in den Schulen und Kirchen vorwiegend deutsch gesprochen wurde.

So stand ich denn schon nach wenigen Tagen Aufenthalt, zwar noch etwas zaghaft, hinter dem Ladentisch des Herrn Reichlinger und verkaufte den Kolonisten, die jeweils an den Markttagen mit ihren Planwagen von weit her gefahren kamen, Nägel, Schrauben und Kaffeetassen.

Im Hintergrund des Ladens, durch eine Glaswand abgetrennt, sass Senhor Reichlinger mit gesträubtem Haarschopf und überwachte uns zwei Lehrlinge – andere Angestellte gab es nicht in seinem Laden – mit Sperberaugen. Er war aber auch sogleich zur Stelle, wenn irgendein Geschäft nicht klappen wollte oder wenn wir Lehrlinge zu wenig Bescheid wussten. Unser Chef, Reichlinger, verfügte über ein wohlklingendes, weithin tragendes Organ. Wenn er sprach, so zirpten im Laden sogar leise die Glasvasen und Schalen mit. Es machte mir immer einen Heidenspass, dies zu beobachten.

Reichlinger war früher einmal Schauspieler gewesen, drüben in Deutschland. Die Inflation und Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg schwemmten ihn dann übers Meer nach Brasilien, wo er, wie so viele andere, sich eine neue Existenz aufbaute. Natürlich war es mit dem Schauspielerberuf vorbei, aber auch als Ladenbesitzer war ihm die fanatische Liebe zu allem, was Theater heisst, geblieben. Kein Wunder also, dass, kaum hatte er sich durch seinen Laden wieder eine feste Grundlage geschaffen, er auch einen Theaterverein gründete. Dank Reichlingers Begabung als Regisseur und als Spieler erfreute sich diese Volksbühne bald eines aussergewöhnlichen Zulaufs.

Es stand also in meinen den Sternen geschrieben, dass ich als der direkt Untergebene des Herrn Reichlinger früher oder später ebenfalls Bekanntschaft mit besagtem Theaterverein machen würde.

Die erste Theaterrolle

Eines Abends, ich hatte eben das Vorhängeschloss an die Ladentür gehängt, rief mich der alte Reichlinger in sein Refugium hinter die Fensterwand. Geschah dies tagsüber, so wussten wir, dass auf einem Kassazettel wieder einmal Zahlen standen, die kein Mensch, nicht einmal der Reichlinger lesen konnte. Nun, neugierig stand ich mit meinen sechzehn Jahren neben dem Allgewaltigen, der sich sehr umständlich eine lange, schwarze Brasilzigarre anzündete. „Hör mal, mein Junge, hör mal ganz genau zu. Ich habe da im Theaterverein ein Stück zum Einstudieren, in dem ich so einen Lausejungen wie dich gut verwenden könnte. Sag’s deiner Mutter, und komm morgen Abend zur Probe, aber studiere mir den Text vorher genau.“ Komisch, wenn der Reichlinger vom Theater sprach, so war er gar nicht mehr derselbe Reichlinger, der, über seine Kontobücher gebeugt, uns im Laden beobachtete.

So kam ich zu meiner ersten Theaterrolle. Voll Stolz schmetterte ich am nächsten Abend meine wenigen Sätze in den leeren Saal, in dem geprobt wurde. Reichlinger lauschte, beobachtete und korrigierte, und seinen Anordnungen und Ratschlägen folgte das ganze Ensemble widerspruchslos, denn Reichlinger verstand es, jeden Einzelnen zu leiten und genau dorthin zu bringen, wo er richtig stand. In der Verschnaufpause hoffte ich zumindest ein Lob für meine gute Leistung einzuheimsen, aber das Gegenteil geschah. Der wohlbekannte Bass von Vater Reichlinger, wie ihn hier alle nannten, tönte plötzlich aus dem Hintergrund: „Hör mal, Schweizer, die Sache ist ja recht und gut; aber ich muss dir erst mal deine Zunge lösen, du sprichst ja alles hinten im Hals. Morgen Abend kommst du zu mir zum Nachtessen, und nachher fangen wir an mit Sprachübungen.“ Als er mein betretenes und enttäuschtes Gesicht sah, klopfte er mir auf die Achseln und sagte: „Na ja, ist schon gut, mein Bürschchen, das kriegen wir ja schon noch hin, hab keinen Kummer“, und schon ging die Probe weiter.

So ging ich denn zweimal in der Woche zum Nachtessen und zu phonetischen Übungen zur Familie Reichlinger. Meiner Mutter passte dies zwar ganz und gar nicht. Des Öfteren seufzte sie, ihre Rösti wäre wohl nicht mehr gut genug, auch schimpfte sie über mein lautes Organ, das durch alle Zimmer schalle, trotzdem ich auf dem Dachboden übte. Überhaupt das „cheibe Schwöbele“ passte ihr dann in ihrem Haus ganz und gar nicht.

Nun, der Funken war entzündet, und mit jeder neuen Rolle, die mir Vater Reichlinger gab, wuchs die Begeisterung.

Der Theaterverein verfügte über eine schöne, geräumige Bühne, und das Repertoire war denkbar abwechslungsreich. Von „Nora“, „die Gespenster“, „Baumeister Solness“, über „die Kraft“, „Maria Magdalena“ und „Agnes Bernauer“ reichte der Bogen bis hinüber zur „Grille“ von Charlotte Birch-Pfeiffer und zu Nestroy. Pro Jahr mussten mindestens fünf bis sechs Stücke über die Bretter gehen. Für einen Theaterverein, dessen Spieler alle einen bürgerlichen Beruf hatten und nur in den Abendstunden zur Probe gehen konnten, verlangte Vater Reichlinger ein enormes Pensum an Proben. Er selbst war aber auch unermüdlich mit guten Ratschlägen und Hinweisen zur Hand. Ich glaube, ich habe in meiner Anfangszeit mehr aus Mutter Reichlingers Töpfen gegessen, als meiner Mutter lieb gewesen ist.

Reichlingers grosser Traum war, einmal den „Faust“ aufzuführen. War er bei den Proben oder bei unseren Zusammenkünften guter Stimmung, so rezitierte er immer aus seinem „Faust“. Ein Höhepunkt war jeweils der „Prolog im Himmel“. Noch heute habe ich seine Stimme im Ohr:

„Und alle deinen hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag.“

Gastspiel im Urwald

Hatten wir ein Stück auf unserer Bühne ausgespielt, dann packten wir am nächsten Samstag Kulissen, Requisiten und Spieler zusammen auf zwei Ford-Lastwägelchen, die uns ein begeistertes Mitglied überliess (unter uns gesagt, es waren die zwei einzigen Lastautos, die es damals im Städtchen gab), und fuhren los auf Gastspiel in den Urwald, oder wenigstens an den Rand desselben.

Die Gebrüder Hermanos, zwei findige Kolonisten, hatten neben ihrer „Venda“ – das heisst Kaufladen, in dem einfach alles zu haben war, was man an diesem Ende der Welt dringend gebrauchte – einen Lagerschuppen gebaut. Diesem Schuppen angefügt war eine Bühne. Dieser Theatersaal war das Ziel unserer langen, vielstündigen Reise. Je mehr wir „durchrumpelt“ wurden, desto fröhlicher ging es zu und her. Da im Innern Brasiliens keine Brücken gebaut werden, führte unser Weg mehrmals durch Flüsse; das heisst, die Strasse ging einfach an der flachsten Stelle des Flussbettes hinab, und mit ein paar tüchtigen Spritzern und Gekreisch fuhr man auf der anderen Seite wieder hinauf. Für was auch den Luxus von Brücken, wenn es auch so ging!

Ordentlich durchrüttelt und geschüttelt langten wir dann endlich bei den Hermanos an. Hier herrschte bereits Hochbetrieb. Aus allen Richtungen der Windrose und aus der hintersten Ecke kamen die Kolonisten, um wieder einmal ein Stücklein Kultur zu sehen und zu erleben.

Diese Gelegenheit wurde zugleich zu einem kleinen Markttag, an dem Kleinvieh gekauft und getauscht wurde. Mit riesigem Hallo wurden unsere staubbedeckten und verspritzten Wagen begrüsst. Der „Theatersaal“ war schon eingerichtet; das heisst, die eingelagerten Kaffee- und Mehlsäcke, und was etwa sonst noch im Wege stand, wurden an die beiden Seiten geräumt und in die Mitte einfach Bänke und Stühle gestellt. Die Jungmannschaft sass auf den aufgetürmten Kaffeesäcken in der „Proszeniumsloge“.

Elektrisches Licht gab es hier draussen natürlich keines. Von der Decke aus Wellblech hingen ein paar Petroleumlampen und gaben genügend hell, damit Alt und Jung sich nach langer Zeit wieder einmal begrüssen konnte. Hier draussen ist man ja Nachbar, selbst wenn zehn Kilometer Distanz zwischen den Ansiedlungen liegen.

Unser kundiger Bühnenmeister – und wer von den Spielern nicht gerade am Schminken war – hatte indessen die Bühne eingerichtet. Auch hier gab es selbstverständlich nur Petroleumlicht. An der Rampe flackerten hinter kleinen Blech-Reflektoren Wachskerzen. Diese waren unseres Requisitenmeisters grösste Sorge. Kaum war jeweils der Vorhang gefallen, rannte er wie der leibhaftige „Gottseibeiuns“, um die gefährlichen Lichtquellen auszublasen was natürlich wieder bedingte, dass das kleine, bucklige Männchen vor jedem Aktbeginn zuerst die Kerzen wieder anstecken musste. Wehe, wenn dies einmal übersehen wurde – da konnte Vater Reichlinger teufelswild werden. Er, der sonst die Güte selber war, hatte auf der Bühne nur eine einzige Devise: Disziplin!

War ein Gewitter im Anzug, so musste mitten im Akt an der nächst passenden Stelle unterbrochen werden; denn der Regen prasselte derart heftig auf das Wellblechdach, dass man selbst Reichlinger, den Allgewaltigen, in der ersten Reihe schon nicht mehr verstand. Das tat aber dem Ganzen keinen Abbruch, nach einer halben Stunde fuhr man einfach weiter.

Ich habe in meinen späteren Jahren nie mehr ein dankbareres Publikum angetroffen als diese einfachen Kolonisten am Rande des Urwaldes. Bienenhonig und was sie sonst noch so hatten an landwirtschaftlichen Produkten brachten sie für uns Spieler mit. Es war immer ein Abschied wie von lieben Verwandten, wenn wir am Sonntag früh wieder in unsere zwei Ford-Wagen stiegen.

Einmal brachte ich meiner Mutter für ihre verwaisten Hennen einen grossen Hahn mit, den die ganze Spielerschar beim ersten Flussübergang mit grossem Hallo auf den Namen Romeo taufte.

Allerdings – und das ist uns mehrmals passiert – konnte man an diesen Flussübergängen in die Mausefalle geraten: Kam ein Wolkenbruch – in den Tropen ist dies ja nichts Ausserordentliches –, so schwoll der Fluss innert Minuten hoch an, und man musste sich lange gedulden, bis sich die gelbe Flut wieder besänftigt hatte und man mehr oder weniger trocken hindurchfahren konnte. Das dauerte oft zwei Tage; wir kehrten dann jeweils wieder um und schliefen im Lagerschuppen, sprich Theatersaal, auf Don Hermanos Mehlsäcken. Für mein Teil war das kein sehr kompliziertes Problem, denn Vater Reichlinger war ja zugleich mein Brotgeber – ich hatte längst die „Stiftenzeit“ hinter mir und sass beim Herrn Reichlinger in seinem Laden hinter der Glaswand bei den Kontobüchern.

Für die übrige Spielerschar aber war es sehr oft ärgerlich, für zwei Tage ein Alibi zu beschaffen. Doch Vater Reichlinger brachte das jeweils persönlich in Ordnung. Für seine Volksbühne wäre er nicht nur durchs Wasser, sondern auch durchs Feuer gegangen. Solch unfreiwillige Aufenthalte benutzte er dann meistens, um entweder aus dem „Faust“ zu rezitieren oder vorzulesen oder um gleich mit einem neuen Stück Sprech- oder Stellproben zu veranstalten. Ich erinnere mich gut, wie ich mehr als ein Dutzend Mal zwischen Hermanos Mehlsäcken hervor – wir übten gerade Ibsens „Gespenster“ ein – den Schlusssatz wiederholen musste: „Mutter, gib mir die Sonne!“ – Bis es unserem Allgewaltigen gefiel, musste einfach alles wiederholt werden, er kannte in dieser Beziehung keine Kompromisse.

Nun, als die Sonne dann endlich kam und der Fluss zurückging, fuhren wir los, kamen auch leidlich trocken durch den ziemlich hochgehenden Fluss. Plötzlich wurde Vater Reichlinger vermisst. War er in den Fluss gefallen? Keiner hatte ihn gesehen, neben keinem hatte er gesessen. Also wieder zurück durch den Fluss! Nach mehr als einer Stunde langten wir wieder bei den Hermanos an. Kein Reichlinger war zu sehen! Nochmals hinauf auf die Bühne – nichts! Da, als wir schon den Schuppen verlassen wollten, kam ein Gähnen hinter den Kaffeesäcken hervor: „Ja, Kinder, wollen wir nicht endlich losfahren?“ Der alte Reichlinger hatte geschlafen, während wir bereits schon eine Stunde heimwärts fuhren.

Guter Vater Reichlinger – längst schon wispern und rauschen über deinem Grabe die Palmen im Wind. Ich selbst habe meine Zelte wieder in der Heimat aufgeschlagen, aber dem alten Reichlinger danke ich es, dass er in mir schon in jungen Jahren die Flamme der Begeisterung zum Volkstheater angefacht hat. Sie wird in mir brennen bis zum Tage, da ich dereinst am dunklen Fluss den Nachen besteige, der mich zum lichten Ufer bringt.

Der Fährmann Charon möge dann die herabgebrannte Fackel in den dunklen Fluss tauchen. Drüben aber auf der breiten Treppe, die zum Lichte führt, wird mein alter Reichlinger stehen und den Lobgesang sprechen:

„Die unbegreiflich hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag.“